Geschichten bewahren
Es ist eine alte Kunst, das Geschichtenerzählen und eine wichtige Hütekraft. Die Geschichten wollen ans Feuer, sie wollen erzählt und bezeugt werden. Die Geschichtenfeuer sind wenige in unserer Gesellschaft. Und die Kunst, die wichtigen und besonderen Geschichten weiterzugeben an die nächsten Generationen ebenso. Oft verschwinden die Geschichten unerzählt und dann wieder ergießt sich ein schier nicht enden wollender Wortschwall aus Menschen heraus.
Geschichtenerzählen ist eine wichtige Hütekraft
Bei vielen Indigenen gibt es Leute, die dafür zuständig sind, Geschichten zu bewahren, zu hüten, das Wesentliche herauszuschälen, den roten Faden zu halten und als gute Nahrung weiterzugeben. Manche bewahren die Genealogie. Sie sind das Familien- und Gemeinschaftsgedächtnis. Sie wissen um das Heilsame der Ahnenerinnerung. Oft sind sie auch SchamanInnen, sie halten die Mythen erzählend und singend lebendig und geben sie an die nächste Generation weiter.
Als Kind hatte ich große Lust, meiner Mutter Geschichten zu entlocken. Ich wollte wissen, woher ich komme, wer die Urgroßeltern und die davor waren. Wie sie gelebt haben. Meine Mutter hat die Schätze ausgepackt, manch ein Geheimnis, Familienmärchen, Lieder, Landkarten. Es gab viele Schöpfungsgeschichten aus der Familie, wahrscheinlich echte und erfundene – wo wir herkommen, wo welche Muster herkommen, Sippenurprinzipien, all das. Es gab viele witzige Ereignisse, von denen sie mir berichtete, über sich, über die Großeltern und Tanten, über weit entfernte Verwandte und über uns Kinder.
Im Laufe der Jahre habe ich verstanden, welchen Einfluss es auf Menschen hat, je nachdem, welche Geschichten weitergegeben werden, ob überhaupt und auf welche Weise. Ob es lebensdienlich ist, nährend, stärkend, ob es Geschichten der Ermächtigung sind, inspirierende, ob sie wärmen oder dazu anregen, aufzuräumen mit dem, was war, ob sie heilsam sind und der Humor in ihnen zu Hause ist, ob sie Mut machen und die Courage fördern, ob sie freie Wege aufzeigen oder Wege, die freigeräumt werden müssen.
Wieviel Weisheit und Wissen wohnt in ihnen? Viele Fragen gibt es zu den Geschichten, die uns erzählt worden sind. Ich frage mich auch, welche Geschichten ich selbst weitergebe. Wem, warum, auf welche Weise? Welchen Geist haben sie, wie freizügig bin ich mit ihnen, wie gut hüte ich sie?
Geschichten binden mich ein in ein größeres Gewebe
Geschichten ermöglichen es mir, mich selbst besser zu verstehen, sie binden mich ein in ein größeres Gewebe. Ein kleiner Teil davon ist die Geschichte meines Jahreszeitenclans. Geschichten aus meiner Familie haben mir Antworten auf eine Frage gegeben, die mich immer beschäftigt hat – warum ich keine Sommerfrau bin, sondern den Winter so liebe und meinen Blick, wenn es drauf ankommt, Richtung Norden richte. Weil ich immer nach roten Fäden Ausschau halte und dann gerne am Faden entlang pirsche, bin ich weißwärts gegangen und habe den Winterfaden aufgespult.
Er hat mich in ein weites Feld geführt, weit wie ein Schneefeld, mit Geschichten, die mich geformt haben. Wenn mich etwas rufen kann, dann der Nordwind. »Das hat seine Gründe«, hat meine Mutter gesagt und mir die ganzen Fotos meiner Familie auf Skier und beim Rodeln, auf dem zugefrorenen See, schlittschuhlaufend und im Schnee sitzend gezeigt, samt den dazugehörigen Geschichten – die Großmutter, die Tanten, die Urgroßmutter, der Dackel Wacki mit dem Urgroßvater, alle in den Bergen, den Bergen des Südens, denen des Nordens. Ich sehe die geschmückten Bäume im Winterwald und die Spuren der Tiere, die wir gelesen haben.
Es gibt die Geschichten von Lucia, der Lichterkönigin, die mich von klein auf begleiten. Meine Mutter wollte immer die Lucia sein, ich dann auch, natürlich. Den Lucienbrauch konnte ich leider nicht einführen bei uns. Ich wäre so gerne eine bayrische Lucia gewesen. Trotz des tropfenden Wachses in den Haaren.
Ahnenlandkarten
Wenn ich meine Spuren im Schnee ziehe, spüre ich, wie alt die Spuren meiner Ahnen im Schnee sind, wie viel wir mit dem Winter zu tun haben.
Durch die Geschichten setzt sich sowas wie ein Familiengedächtnis zusammen. Es sind Ahnenlandkarten. Sie müssen mir nicht gefallen, aber wenn ich sie habe, kann ich damit umgehen, etwas verändern, neue Wege gehen, etwas lösen, befreien oder verstehen. Da sehe ich Muster und Spuren, sehr detaillierte Abschnitte und welche, die kaum Informationen hergeben. Vor allem sehe ich meinen Jahreszeitenclan.
Ich glaube, alle Menschen haben Jahreszeitenclans und all diese Clans halten wundervolle Geschichten bereit.
Wie die der Sommerleute. Die Sommergeschichten höre ich mir auch an, aber da geht es mir ganz anders damit, obwohl auch sie ein Teil meiner Familiengeschichte sind. Sie haben mit Seen zu tun, mit Booten und Sommerfesten, mit der Kraft der südlichen Berge. Es sind nicht meine Kräfte. Die Geschichten helfen mir allerdings, meinen Bruder und andere Verwandte besser zu verstehen, die so richtige Sommerleute sind. Mein Boot steht mehr rum, als es gefahren wird und wenn ich am Steg liege und aufs Wasser schaue, freue ich mich auf die Zeit, wenn er zugefroren ist und ich auf dem Eis rumrutschen kann.
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